EINZELSCHICKSAL

- Unter jeder Uniform steckt nur ein Mensch -

Der VBGO e.V. ist mit der Bergung von Kriegsopfern beschäftigt, deren Schicksale größtenteils bis heute ungeklärt sind. Hierbei machen wir keinen Unterschied in der Nation.
 Jeder Mensch hat das Anrecht auf eine würdige Beisetzung. Seinem Opfer soll gedacht werden.

Im Tode sind alle gleich
.

Anbei sehen Sie einige wenige Beispiele der tausenden Schicksale, die wir seit 1992 klären konnten.
Jeder Tote hat eine Lebensgeschichte die erzählt werden könnte.
Exemplarisch haben wir hier einige kurz vorgestellt

 

 

JACOB RIEG - Vermisst Januar 1943 - Geborgen durch den VBGO 2002.

Jacob RIEG

Nationalität: Deutscher
Erkennungsmarke: ganze Erkennungmarke
Ausgrabungsort: Russland, Stalingrad ( Wolgograd)
Ausgrabung anzeigen

Jacob Rieg als Soldat

JACOB RIEG - Vermisst Januar 1943 - Geborgen durch den VBGO 2002.

Wie ein Wunder: Nach 60 Jahren kann sich Dagmar Bauer endlich von ihrem vermissten toten Vater verabschieden

 

Von Waltraud Kirsch-Mayer

 

Dein Schicksal war Stalingrad. Blaue Blumen blühten über deinem verlorenen Grab. In der Steppe Einsamkeit." So beginnt die Geschichte "vom Tod eines Soldaten", die Heini Rumetsch seinem Onkel Jakob Rieg gewidmet hat. Er bringt sie im August 2002 für die Familienchronik zu Papier - denn wenige Wochen zuvor sind in der Don-Wolga-Steppe bei Dimitrijewska, im einst berüchtigten Stalingradkessel, die sterblichen Überreste von Jakob Rieg ausgegraben worden. Bis dahin galt der Pfälzer als vermisst. "Wie ein Wunder" empfindet die Tochter seine Exhumierung. Dass ihr Vater nach 60 Jahren gefunden wird, dass sie nun endlich die Möglichkeit hat, von ihm Abschied zu nehmen - das kann Dagmar Bauer bis heute kaum fassen. Sobald Jakob Rieg im Soldatenfriedhof Rossoschka einen würdigen letzten Ruheplatz mit Namenstafel erhält, will die 62-jährige Ludwigshafenerin nach Russland fliegen.

Als die kleine Dagmar am 25. März 1940 in dem kleinen pfälzischen Dorf Niederhochstadt auf die Welt kommt, ist Jakob Rieg bereits Soldat. Zwei Jahre zuvor hat der Kaufmann, der ein kleines Textilgeschäft betreibt, seine Anneliese geheiratet. Viel Zeit bleibt dem Paar nicht, Zweisamkeit aufzubauen. Jakob Rieg wird eingezogen. Sein erstes und einziges Kind kennt er nur aus Heimaturlauben. "Leider habe ich an meinen Vater keine eigene Erinnerungen; was ich weiß, habe ich nur aus Erzählungen", bedauert Dagmar Bauer, selbst Mutter von vier Kindern. Sie kann sich aber sehr gut daran erinnern, wie sie als Jugendliche einen Feldpostbrief findet, in dem sich Jakob Rieg liebevoll nach seinem Töchterchen erkundigt. "Da habe ich geheult - weil ich begriffen habe, dass mich jemand geliebt hat, den ich gar nicht kannte."

Bei unserem Treffen kramt Dagmar Bauer Feldpostbriefe hervor, holt ein Familienalbum, das sie angelegt hat: "Vater - Stalingrad hat es verhindert", prangt in dicken Lettern unter zwei Fotos, auf denen ein blonder Mann in die Kamera lacht. Ein Bild, das den Vater mit der kleinen Tochter zeigt, gibt es nicht. Die aufbewahrten Briefe von der Ostfront geben wenig vom Kriegsgeschehen, von Leid und Elend preis. "Er wollte vor allem wissen, was Zuhause vor sich geht." In der letzten Feldpost, die Dagmar Bauer im Nachlass ihrer Mutter findet - Datum 26. August 1942 -, macht Jakob Rieg erstmals Andeutungen, dass sich das Blatt militärisch wendet. "Der Russe ist uns schwer auf den Fersen". Der 31-Jährige berichtet fast beiläufig von einer schwer verheilenden Armwunde. Außerdem teilt er mit, ein Testament weitergeleitet zu haben. Darin habe er verfügt, seine Ehefrau solle Haus und Textilgeschäft bekommen, falls er aus dem Krieg nicht zurückkehrt. Jakob Rieg denkt noch weiter und nimmt die Zukunft vorweg: Falls seine Frau wieder heiratet, dann soll Dagmar die Hälfte des Erbes erhalten, bestimmt er. Irgendwann im Dezember 1942 erreicht Anneliese Rieg ein leeres Kuvert. "Das empfand meine Mutter als bedrohliches Omen." Aus Erzählungen weiß Dagmar Bauer, dass ihr Vater zuvor noch geschrieben hat, er liege mit einer Lungenentzündung im Schützengraben und kämpfe mit dem wohl erbittertsten Feind, der Kälte. Danach verlieren sich die Spuren des Mannes im Kessel von Stalingrad. Im Mai 1943 bekommt Anneliese Rieg noch einmal Post - aber nicht von ihrem Mann, sondern von der Stabsstelle Stalingrad: Die 24-jährige Ehefrau erfahrt, dass ihr Mann als vermisst gilt. Der vorgedruckte Postkartentext endet mit "Heil Hitler". In den nächsten Jahren wendet sich die junge Mutter mehrfach an Suchdienste - doch Jakob Rieg teilt das Schicksal einer Million vermisster deutscher Wehrmachtssoldaten. In den Gedanken seiner Frau und seiner Schwester lebt der Pfälzer, "der schöne Dinge liebte", wie die Tochter aus Erzählungen weiß, weiter. Aber weiter geht auch das Leben, Dagmar ist elf, als ihre Mutter wieder heiratet. "Damals musste sie meinen Vater für tot erklären lassen, und das hat sie sehr belastet", erinnert sich Dagmar Bauer. "Was ist, wenn er doch noch kommt?" Diese Frage habe die Mutter umgetrieben. Aber sie hört nie mehr etwas von ihrer Jugendliebe. Die Wende in der Vermissten-Biografie hat sie nicht mehr erlebt - wohl aber die inzwischen 95-jährige Schwester von Jakob Rieg. Dass der Bruder, der freche Lausbub von einst, "endlich in einem richtigen Grab beerdigt wird" - für dieses Wunder ist Emma Rumetsch dankbar, auch wenn die aufgewühlte Seniorin nächtelang nicht schlafen kann. Der Fund von Jakob Riegs sterblichen Überresten, den ein SWR-Filmteam dokumentiert, ist ein Glücksfall, aber kein Zufall. Denn seit einigen Jahren suchen Organisationen, wie der "Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge" oder der "Verein zur Bergung Gefallener in Osteuropa", in und um Stalingrad nach toten Soldaten. Oft geben Einheimische - wie eine alte Frau, die als Mädchen zum Abtransport von Leichen eingeteilt war -, entscheidende Hinweise. So erfahrt der Suchtrupp von einem ungewöhnlichen Erdhügel unweit eines russischen Massengrabes. Ehrenamtliche Helfer stoßen dort in nur 75 Zentimeter Tiefe auf die Gebeine eines Menschen. In dem Erdloch liegen außerdem ein Essbesteck, eine Zahnbürste und eine Erkennungsmarke mit dem Text "3.Schütz.Ere.kp.404, Nr.287 A". Die "Deutsche Dienststelle" in Berlin, wo Unterlagen von 20 Millionen ehemaliger Wehrmachtsangehöriger lagern, wird nicht nur in ihren Listen fündig, sie findet auch die Tochter des einstigen Unteroffiziers Jakob Rieg. Inzwischen weiß Dagmar Bauer, dass sie das Schicksal ihres vermissten Vaters "erst jetzt richtig aufarbeitet". Jakob Rieg hat nach 60 Jahren in den Herzen seiner Angehörigen wieder zu leben begonnen. "Meine Kinder beschäftigten sich auf einmal mit ihrem Großvater". Die 62-Jährige ist dankbar, dass ihre Gedanken an den Vater nun einen Ort haben, den die Familie besuchen kann. Immer wieder betont sie: "Dass es Menschen gibt, die auf eigene Flugkosten im Urlaub nach Vermissten suchen, um ihnen ein Grab zu geben, das hat uns alle sehr berührt."

 

©MannheimerMorgen   -   30.01.2003